NOSTALGIA
Der kluge Algorithmus erkennt mein Verlangen, Bilder aus der Vergangenheit zu konsumieren, und füllt meine Zeitleiste mit Schwarz-Weiß-Momenten von Verstorbenen und Titelseiten von jenseitigen, glorreichen Tagen.
Konsumieren mit Bulimie Bilder aus der Vergangenheit auf sozialen Plattformen.
Gesichter und Bezüge, die ich manchmal wiedererkenne und die mir manchmal völlig unbekannt sind, in einem Kaleidoskop ohne jede Logik und ohne logische Kontinuität. Jedes Jahrzehnt und eine andere Zeitschicht. Ich springe vom späten 19. Jahrhundert in die 1990er Jahre und von den 1990ern zurück in die 1960er Jahre und dann wieder in die frühen 2000er Jahre.
Der schlaue Algorithmus erkennt mein Verlangen, Bilder aus der Vergangenheit zu konsumieren, und füllt meine Zeitleiste mit Schwarzweißbildern von Verstorbenen und Titelbildern aus jenseitigen glorreichen Tagen. Jeder soziale „Tomb Raider“ hat seine Vorlieben. Meine sind die Titelseiten populärer Zeitschriften aus den 70er Jahren, wie Domino’s und Fandazio.
Sie sind oft sexistisch, strahlen aber eine Lust aus, die die Titelseiten der 60er Jahre nicht hatten, eine Unschuld, die in den viel vertrauteren 80er Jahren verloren gehen würde, und schon gar nicht die Vulgarität der 90er Jahre. Ihre eingängigen Titel von damals sind die Vorläufer der Clickbaits auf Websites. Heute klingen sie veraltet, aber damals waren es frische Themen, von denen die Redakteure dachten, sie würden funktionieren.
Und ein Heer heute unbekannter Sternchen, deren Ära an ihnen vorbeirauschte und deren Ambitionen durchkreuzt wurden, die aber einst einen flüchtigen Ruhm erlangten, indem sie in sexy Posen in Geistermagazinen posierten. Einige von ihnen mögen noch am Leben sein. Wo sind sie heute? Ich frage mich, was sie denken, wenn sie sich Jahrzehnte später auf diesen Titelseiten sehen und Blicke ernten?
Was per Definition vergänglich ist, erlangt im Nachhinein eine Unsterblichkeit, die nicht mehr erwartet wurde, nicht in einer Ausstellung, einem Album, einem Museum oder einem Archiv, sondern in etwas noch Vergänglicherem, Unordentlichem, Chaotischem und Interpretierbarem: den sozialen Medien. Man weiß nicht, wann und durch welches Tor die Vergangenheit eindringen wird, ohne einen zu fragen.
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Und wenn die Prominenten und Stars ohnehin ihren eigenen Anteil an der Nachwelt beanspruchen, was genau beanspruchen dann die Horden anonymer unbekannter Toter, die ohne zeitliche Linearität meine Zeitleiste überfluten? Wer hat beschlossen, seine privaten Momente unseren gefräßigen Augen und unserer Gier nach der Vergangenheit auszuliefern?
Nicht nur, dass sie nie in diese Ausstellung eingewilligt haben, sondern je weiter zurück sie von der Kamera eingefangen wurden, desto unwahrscheinlicher ist es, dass ihnen in den Sinn kam, dass es auch 100 Jahre später noch andere Menschen sein könnten, die vor einem kleinen Bildschirm, der in die Handfläche passt, in Sofas sinken, auf Festen und Jahrmärkten, auf inszenierten Familienfotos, die zu Rahmen an der Wand werden, bei Besuchen auf der Akropolis, beim Posieren für umherziehende Fotografen, auf Souvenirfotos auf Schulhöfen.
Ich frage mich, was all diese Fremden, deren Namen in Vergessenheit geraten sind, denken würden, wenn sie wüssten, dass wir sie beobachten und uns fragen, wie sie leben, was sie quält, wie sie an diesem Morgen aufgewacht sind?
Wer sind all diese Menschen in altertümlicher Kleidung, wer sind diese grimmigen kleinen Kinder, die ängstlich in die Kamera schauen, die verängstigten und stolzen Frauen, die ernsten und schüchternen Männer? Andere, fremde Menschen, die sich nicht nur durch ihr Aussehen und ihre Gesichtszüge unterscheiden, sondern auch durch das, was sie ausstrahlen. Ich frage mich, was all diese Fremden, deren Namen in Vergessenheit geraten sind, denken würden, wenn sie wüssten, dass wir sie beobachten und uns fragen, wie sie leben, was sie plagt, wie sie an diesem Morgen aufgewacht sind, was dem Klicken der Kamera vorausging? Eingefrorene Leben und Überbleibsel eines Alltags, in den sie nicht mehr eingreifen können.
Sie erinnern mich immer deutlicher an das, was Kostis Papagiorgis in „Die Lebenden und die Toten“ schrieb: „Die Toten haben gelebt, aber sie können nicht wieder leben, noch können sie etwas an dem ändern, was bereits vergangen ist. Das Verwaiste an seinem Leben ist, dass er, während er einst mit dem Leben mitging, dem Lauf der Zeit folgte, die Freiheit hatte, die Bedeutung der Vergangenheit nach Belieben umzugestalten, nun – gleichsam als Schatten – unbeteiligt bleibt. Wie eine verirrte Erinnerung wird sein Leben anderen überlassen, während seine Zukunft unwiderruflich entwurzelt ist. Jeder Mensch ohne Zukunft, d.h. jeder Tote, wird enthauptet, wird Geschichte auf den Lippen der anderen, ein Anlass für endlose Erklärungen und Missverständnisse.“ (‘Die Lebenden und die Untoten’, Kastaniotis, 1995)
Verirrte Erinnerungen“, die in den sozialen Medien frei zirkulieren, sind anfällig für Missverständnisse, willkürliche Interpretationen, Vermutungen und willkürliche Aussagen. Wir konsumieren gefräßig Verweise auf Zeiten, die wir gar nicht erlebt haben, so dass es nicht möglich ist, ihnen nostalgisch gegenüberzustehen, oder, wenn wir sie erlebt haben, wird ihre Rezeption von der Subjektivität bestimmt.
Die Historiker der Zukunft werden vielleicht ähnliche Gedanken über unsere eigenen digitalen Fußabdrücke haben. Untersuchungen zufolge wird Facebook, falls es überhaupt noch existiert, im Jahr 2070 mehr tote als lebende registrierte Nutzer haben. Wer wird für das Ausgraben all unserer Selfies verantwortlich sein, wenn sich die sozialen Netzwerke nach und nach in Friedhöfe verwandeln und andere uns beobachten werden?